Hier der vollständige Text von Michael Thumser:
Zwei Hände, die handeln
Haargenau über der Grenzlinie zwischen Selb und Aš haben Kulturorganisationen der Partnerstädte ein spektakuläres Kunstobjekt errichtet. Ebenso wie zwei große Stahlräder gehört es zum Projekt „Europa – ganz nah“.
Selb, Aš, 1. Dezember – „Werden wir uns je wieder die Hände schütteln?“, fragte schon im Mai das Jump-Radio des Mitteldeutschen Rundfunks und machte (sprachlich holprig) wenig Hoffnung: „Zu gefährlich ist es, dass der Sars-CoV-2-Erreger dabei übertragen wird.“ So schlägt das – zu Recht gebotene – social distancing anhaltend durch bis in so intime Lebensbereiche wie den Kontakt zu Freunden, Kollegen oder dem Arzt.
Auch die zwei mächtigen Hände, die seit Kurzem auf der Straße zwischen Selb und Aš haargenau über dem deutsch-tschechischen Grenzverlauf schweben, scheinen zu begrüßendem Körperkontakt bereit und vermeiden ihn doch. Zwar passt das Bild so (auch) zu den gängigen Verhaltensmaßregeln im Zeichen der Pandemie, als wärs ein Appell: Fasst euch nicht an! Gleichwohl hängen die Hände nicht unmittelbar mit ihnen zusammen. Denn keinen Handschlag zwischen den Grenzanrainern, der Tschechischen und der Bundesrepublik, soll das Großobjekt symbolisieren; sondern es illustriert eine „Handreichung“: Hier wird nicht fest, schon gar nicht gewaltsam zugegriffen; sondern man nähert sich an, ähnlich der Art, in der auf Michelangelos berühmtem Schöpfungsfresko an der Decke der Sixtinischen Kapelle in Rom der Finger Gottvaters berührungslos dem Finger Adams entgegenkommt. Auch am Grenzübergang wird nicht genommen, sondern gegeben – überreicht, verbreitet, vermittelt … Zwei Hände, die handeln: Inspirierend an solcher Kunst wirkt, dass sie, dank expandierender Ästhetik und konzentrierter Ausdruckskraft, allen möglichen Deutungen offensteht. Nur positiv, das liegt fest, müssen die Deutungen sein.
Wuchtig, luftig, frei
Die „Handreichung“ entstand im Rahmen des bilateralen Kunstprojekts „Europa – ganz nah“, zu dem sich der Kunstverein Hochfranken Selb und „Knivova, Muzeum a Informacni centrum“, eine eigenständige Einrichtung der Partnerstadt Aš, zusammentaten. Als Schirmherren treten keine Geringeren als die Außenminister der Nachbarstaaten, Heiko Maas und Tomáš Petříček auf, als Projektleiter firmiert der umtriebige, als Grenzgänger erfahrene Hans-Joachim Goller. Von 1976 bis 1996 diente er Selb als Zweiter Bürgermeister und Kulturdezernent, initiierte dort den 1990 gegründeten Kunstverein und führte schon bei etlichen west-östlichen Aktionen die Feder. Der Verein bringt zehn Prozent der Projektkosten von insgesamt 180 000 Euro auf, fünf Prozent steuert die Oberfrankenstiftung bei; den Löwenanteil von 85 Prozent übernahm die Europäische Union.
Drei mal drei mal drei Meter misst das würfelförmige Stahlgestell, in dem die Hände auf Abstand und doch dicht beieinander an Edelstahlseilen befestigt sind, wuchtig, luftig und frei. Eine Hand arbeitete Wolfgang Stefan aus Vielitz bei Selb aus einem einzigen massiven Holzklotz heraus, während die andere sein tschechischer Kollege Tomáš Dolejš aus etwa 150 Stahlblechplatten zusammenfügte. In Größe und Geste konform, machen die Hände aus ihrer Ungleichartigkeit keinen Hehl und ergeben trotzdem ein Paar. Sie an Ort und Stelle zu bringen, war indes kein leichtes Unterfangen: „Einen Hindernislauf“ nennt Goller die Zeit vom Antrag bei der deutsch-tschechischen Grenzkommission – die der Kunst zuliebe eine „Ausnahmegenehmigung der seltensten Art“ erteilte – bis zur kurzen Teilöffnung des Übergangs, der zur Zeit der Aufstellung coronabedingt geschlossen war.
Europa – ganz nah? Barrieren könnten sich auch auf einem weiteren Gebiet des Projekts auftun. Denn so, wie der Kunstverein es umreißt, zielt es als Ganzes darauf ab, „zusammen mit Künstlern, Wissenschaftlern, Politikern und Jugendlichen aus Selb und Aš neue grenzüberschreitende Netzwerke für die Zukunft aufzubauen“. Wie aber soll das gehen, wenn – wie Hans-Joachim Goller einräumt – auf tschechischer Seite nur mehr gelegentlich Deutsch gesprochen wird und in Deutschland kaum noch jemand die Ausdauer aufbringt, Tschechisch zu lernen? Hier baut der Organisator nicht zuletzt auf die jungen Leute: „Die lernen“, bestätigt er, „heutzutage auf beiden Seiten Englisch fast wie eine zweite Muttersprache.“
Zum Dritten fügen sich zwei weitere Objekte ans Kunstprojekt an: zwei weitgehend baugleiche, in wichtigen Details allerdings unterschiedliche „Europa-Räder“. Eines, von Detlev Bertram geschaffen, wurde in Aš am Textilmuseum (Mikulášská 3) platziert, das andere, von Jan Samec , am Selber Schützengarten (Hohenberger Straße 33). Zusammen kennzeichneten sie „die Schwesterstädte als grenzüberschreitende Europastadt Selb-Aš“, interpretiert der Kunstverein. Dabei versinnbildliche das Rad „die Vitalität und Mobilität in Europa, die Dynamik des Miteinanders auf allen Ebenen. Die vielfarbigen Glasscheiben in den Rädern symbolisieren die unterschiedlichen Perspektiven“ auf den Kontinent. Die Gläser in Selb, marmoriert, sind den zwölf Monaten und Tierkreiszeichen zugeordnet, jene in der Nachbarstadt monochrom gestaltet. Keine Fenster: Zwar für Transparenz stehen die Scheiben, aber nicht simpel für Durchblick, sondern, wie es scheint, durchaus idealistisch für die Buntheit der Lebenshaltungen, für die Bandbreite der Zukunftsmöglichkeiten. Dabei erinnern sie zugleich an die Schaufelbretter oder -bleche in Mühlrädern. Vielleicht besagt das – sofern auch diese Kunstwerke offen sind für alle möglichen positiven Deutungen–: Es muss, um Europa weiter zu einen, noch reichlich geschaufelt, geschürft und ausgehoben werden. Doch solang das Rad sich dreht, erzeugt es Energie.